Alrik lernt SprechenDie Schreiberschule zu Amrunhaven stellte sich als größeres Institut heraus, das interessierten Bürgern und Zugereisten sogar diverse Lehrgänge in Fremdsprachen offerierte.
Wie weltoffen die Leute hier doch sind, sinnierte Alrik.
Anderswo auf der Welt muss man einen festen Wohnsitz und eine Arbeitsstelle vorweisen, um auch nur in bestimmten Tabernas einkehren zu dürfen.Weltoffen, ja, gönnerhaft, nein. Die Thelesser teilten ihren Wissensschatz zwar bereitwillig mit Fremden, doch blanke Münze wollten sie sehr wohl dafür sehen.
Wie stets unwillig, sich längere Zeit an einen Dienstherren oder Ort zu binden, wechselte Alrik von Gelegenheitsarbeit zu Gelegenheitsarbeit. Er servierte als Schankjunge Bier, betätigte sich als Wäscher, fegte die Straßen, sammelte sogar die Kadaver verendeter Straßenköter ein und schleppte im Hafen schwere Lasten. Er erarbeitete sich einen Ruf als zuverlässige und höfliche Hilfskraft und bald vertrauten ihm die Einheimischen sogar Botengänge innerhalb der Stadt an.
Nur die Arbeit, zu der er am besten taugte, scheute der Südsterner wie der Dämon das Weihwasser: Um keinen Preis der Welt wollte sich Alrik als Übungspartner in der örtlichen Kampfschule zur Verfügung stellen.
Als Alrik auf diese Weise genug Geld zusammenbekommen hatte, meldete er sich in der Schreiberschule an.
Ein Aushang erweckte sein Interesse:
"Lesen und Schreiben lernen & die Ausdrucksfähigkeit erweitern
Jetzt im günstigen Doppelpack buchen!"
Alrik musste die wenigen Zeilen mehrmals lesen, um ihren Sinn zu verstehen. Doch der Preis war günstig, die Zeiten liesen sich mit seinen Arbeiten vereinbaren und so schrieb er sich für das Angebot ein.
Am ersten Unterrichtstag fand sich Alrik pünktlich im Klassenzimmer ein. Er stellte fest, dass außer ihm und dem Lehrer noch niemand weiter anwesend war.
"Licia zum Gruße!" rief der Schüler.
Der Lehrer, ein Mittelreicher in Alriks Alter, erwiderte den Gruß:
"Licia zum Gruße! Lasst die Tür am besten gleich offen."
Alrik gehorchte. Er suchte sich einen Einzeltisch in der vordersten Reihe. Als er bemerkte, dass der Lehrer ein mit etwa zwanzig Namen beschriebenes Blatt Pergament hervorkramte, nannte er seinen Namen: "Ich bin Alricio Fischer. Ich will hier Kaisserreichisch lernen."
"Imperial", korrigierte der Lehrer, während er Alriks Namen auf der Liste abhakte.
"Ja, eben das."
Der Lehrer - er stellte sich als Hanshagen von Denibenhöh vor - musterte seinen Schüler neugierig.
"Imperial für Fortgeschrittene. Sagt, Alricio, Was erwartet Ihr von diesem Kurs?"
Alrik zuckte die Achseln. "Keine Ahnung", gestand er. "Eigentlich kommt es mir komisch vor, hier zu sein. Als solle ich noch mal sprechen lernen!"
Hanshagen wartete. Sein Schüler schien noch mehr auf dem Herzen zu haben.
"Die Tochter meines ersten..." Alrik stockte kurz, hätte er doch beinahe "Besitzers" gesagt. Doch er fing sich noch rechtzeitig und fuhr fort: "...Dienstherren konnte das scharfe und das stumpfe s nicht unterscheiden."
"Das stimmhafte und stimmlose s", unterbrach der Gelehrte seinen Schüler. Er grinste schief, als er seine Unhöflichkeit realisierte. "Oh, entschuldigt bitte, das ist eine lästige Angewohnheit... Erzählt weiter!"
"Ihr Vater hat einen Hauslehrer bestellt, der ihr gezeigt hat, wie sie die Zunge hinter die untere Zahnreihe bewegen muss." Alrik schmunzelte. "Als Kinder fanden wir das lustig, deswegen habe ich mir das gemerkt."
Hanshagen nickte. "Nun, das ist nicht ganz, worum es in diesem Kurs geht. Ihr sollt lernen, eure Muttersprache flexibel einzusetzen, je nachdem, wo ihr hinkommt. Damit meine ich unterschiedliche Kulturen, aber auch die verschiedenen Stände. Denn jeder Mensch in dieser Stadt spricht ein wenig anders, obwohl sich alle derselben Sprache bedienen."
Interessiert folgte Alrik den Ausführungen. Unterdessen fanden sich weitere Schüler ein. Sie nahmen Platz, bemüht, nicht zu viel Lärm zu veranstalten, und lauschten ebenfalls neugierig auf Hanshagens Worte:
"Beispielsweise kann man sagen:
Ich verstehe kein Wort, ihr redet so komisch. Oder auch:
Verzeiht, Eure Ausdrucksweise dünkt mich befremdlich. Ich vermag Euch nicht zu folgen.
In Wangalen flicht man gern auch mal einen orkischen Ausdruck ein:
Sorry, ich verstehe kein Wort! Das erste Wort bedeutet übrigens soviel wie:
Entschuldige."
"Die Orks haben ein Wort für
Entschuldige?!" entfuhr es Alrik. "Das hätte ich nicht gedacht!"
Hanshagen hob abwehrend die Arme. "Bei den Göttern, nein! Die wörtliche Übersetzung lautet
Da bist du jetzt selber schuld dran."
Das klang bereits überzeugender, fand Alrik.
"Und Ihr erklärt uns, wie man es richtig sagt?" hakte ein weiterer Schüler nach.
Hanshagen schüttelte den Kopf. "Alle drei Sätze waren richtig. Je nachdem, mit wem Ihr Euch unterhaltet und was Ihr erreichen möchtet, müsst Ihr Euch für die passendste Variante entscheiden. Vermitteln werde ich Euch das Gefühl dafür und natürlich werdet Ihr auch die verschiedenen Formulierungen von mir lernen."
Hanshagen nickte Alrik zu. "Der Vater Eurer Freundin aus Kindertagen war sicher einflussreich. Er konnte es sich nicht leisten, eine Tochter mit einem Sprachfehler großzuziehen, ohne etwas dagegen zu unternehmen. In seinen Kreisen war es ein Makel, doch in manchen Situationen kann es sogar von Vorteil sein, ein Lispeln oder Stottern vorzutäuschen beziehungsweise sich eines für den eigenen Stand unangemessenen Tonfalls zu bedienen. Als Abenteuerer werdet Ihr viel herumkommen und es mit den unterschiedlichsten Personen zu tun bekommen.
Betrachtet mich einfach als Euren Kampfschullehrer für die Waffengattung des gesprochenen Wortes!"
Hanshagen beendete seine Einführung und ging zur ersten Lektion über. Alrik sah sich unauffällig im Raum um. So mancher der Einwanderer im Raum war ausschließlich an der Sprechpraxis interessiert und bereute es bereits, sich ausgerechnet für diesen Kurs eingetragen zu haben. Einige Mitschüler schienen es sogar anrüchtig zu finden, wie ein Stallknecht sprechen zu lernen oder sich gar der Sprache der edleren Stände zu bedienen, ohne selbst von blauem Blut zu sein.
Doch für einen flüchtigen Sklaven konnte es nichts Besseres geben als Hanshagens ungewöhnlichen Unterricht. Mit jeder Stunde gewann Alrik an Sicherheit, nicht nur, was seine Sprache betraf. Er glaubte nun erstmalig, es vielleicht doch schaffen zu können, seine Freiheit zu bewahren.
Ja, vielleicht hatte er eine Zukunft.