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Der Himmel über Alt-Heroida war von dichten, dunklen Regenwolken bedeckt und das andauernde Prasseln der schweren Regentropfen auf die Dachschindeln des Wirtshauses überdeckte die ansonsten üblichen Geräusche des Hafenviertels. Guy hatte sich eine Flasche Rosso di Vinodulcina geöffnet welche er dem Gastwirt hatte abschwätzen können. Während der entkorkte Wein atmete setzte sich Guy an den alten hölzernen Sekretär. Der Stuhl ächzte unter seinem Gewicht, hielt aber. Vor einigen Wochen hatte er diese kleine Dachkammer gemietet - nichts besonderes, aber für seine Zwecke reichte sie vollkommen. Ein kleines Bett, eine Kommode und der von ihm als Arbeitsplatz genutzte Sekretär komplettierten die spartanische Einrichtung des Zimmers. Hier und da war das Dach undicht und Guy hatte sich beim ersten Regen mit einigen Eimern aushelfen müssen, aber auch mit dieser Situation kam er zurecht.
Vor seinem geistigen Auge passierten noch einmal die Ereignisse der letzten Tage Revue. Das Gespräch mit dem Marchese d'Emeralde und seine neue Aufgabe, dem einfachen Volke des Nuovo Imperio am Hofe Gehör zu verschaffen. Guy goss sich einen Schluck des Rotweins ein, trank und ließ den herben Tropfen auf der Zunge zergehen. Wie er schon befürchtet hatte schmeckte der Wein nach Kork, aber das machte ihm jetzt auch nichts aus. Spätestens nach dem dritten Glas würde dieser Makel nicht mehr auffallen. Seine Gedanken drehten sich um das Gemeinwohl des Staates, konnte dieser in sich doch nur ein gesundes Ganzes bilden wenn sich die verschiedenen Teile im Einklang miteinander befanden. Aber gerade diese Einheit des politischen Körpers war momentan in der angepannten politischen Lage Auretianiens schwer zu erreichen. Guy blätterte in dem kleinen Quarto-Bändchen welches im der Marchese geschenkt hatte, Niccolone Masciavellios Werk über den Staat. Bei einem Absatz blieb er hängen und las:
"Hierbei sind zwei Dinge zu bemerken: erstens, dass das Volk oft, von einem Trugbild des allgemeinen Nutzens geblendet, sein Verderben begehrt. Und wird ihm nicht von einem Mann, in den es Vertrauen setzt, begreiflich gemacht, was verderblich und was nützlich ist, so entspringen daraus in einem Freistaat unendliche Gefahren und Nachteile. Will es aber das Schicksal, dass das Volk zu niemandem Vertrauen hat, wie es manchmal der Fall ist, wenn es schon früher einmal durch die Umstände oder durch die Menschen getäuscht worden ist, so stürzt es unaufhaltsam in sein Verderben."*
Nachdenklich nahm er einen weiteren Schluck Wein, verzog kurz seine Miene und stellte das Glas wieder auf den Sekretär. Wie sagte doch die alte Spruchweisheit? Tum pietate gravem ac meritis si forte virum quem conspexere, silent arrectisque auribus adstant. Wenn sie dann einen Mann, ehrwürdig durch Verdienst und Tugend, erblicken, schweigen sie und stehen mit lauschenden Ohren. Nun war er aber alles andere als ehrwürdig durch Verdienst und Tugend. Zu sehr hatte das Laster sein bisheriges Leben geprägt. Der Comte de Porneaux, ein Possenreisser und Maulheld, war noch zu vielen nur allzu gut bekannt. Wer sollte ihm zuhören? Wer würde ihm seine Sorgen anvertrauen? Die Aufgabe die vor ihm lag trug in sich die Saat des Scheiterns. Auch hatten sich zu viele Philosophen und Rechtsgelehrte in der Vergangenheit gegen eine Beteiligung des Volkes an der Staatsführung ausgesprochen. Ea natura multitudinis est, aut servit humiliter, aut superbe dominatur. Dies ist die Natur der Menge; entweder dient sie unterwürfig, oder sie herrscht übermütig. Seine Ideen würde er nur schwerlich gegen allzu viele Widersacher durchsetzen können. Aber auch hier fand Guy eine Passage in dem kleinen Büchlein das er so gut kannte.
"Dieser Fehler, den die Schriftsteller dem Volk zur Last legen, kann allen Menschen und besonders allen Machthabern zur Last gelegt werden. Jeder, der nicht durch Gesetze im Zaum gehalten wird, wird dieselben Fehler begehen wie eine entfesselte Volksmasse. Dies ist leicht einzusehen; denn es gibt und gab viele Staatsoberhäupter, aber nur wenige gute und weise: Dabei meine ich die Staatsoberhäupter, die die Macht hatten, den hemmenden Zügel des Gesetzes zu zereissen."**
Gerade in dieser Zeit galt es, diese Warnung ernstzunehmen. So war das Gleichgewicht im Staat durch das missglückte Attentat auf die Kaiserin schon genug ins Wanken geraten, die Ereignisse in und um Droux waren ebenfalls äußerst besorgniserregend, und das Erstarken der Piratenverbände vor Medina stellte nur eine logische Folge dieser Zerrüttungen dar. All dies waren Vorzeichen eines Umbruchs. Mochte sich dieser in naher Zukunft vollziehen oder noch in weiter Ferne liegen, er warf bereits seine Schatten vorraus. Iustitia est fundamentum regni. Die Gerechtigkeit, ein starkes Gesetz, war das Fundament des Staates. Wollte er am Bau eines stabilen Hauses welches die Zeit überstehen würde mitwirken, so musste er dieses bedenken: Ohne ein starkes Fundament würde ein jedes Haus nach kurzer Zeit einstürzen. Guy nahm ein Blatt Papier hervor und begann, einen Brief an einen Freund in San Aurecciani aufzusetzen. Wenn er die Stimme des Volkes wahrheitsgemäß vernehmen und weiterleiten sollte, so musste er sich zunächst um seinen Ruf kümmern.
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