Ein einsamer Reiter lenkt sein Pferd mit klappernden Hufen über das Pflaster der Hauptstraße zum Hafen herunter. Am Hafen angekommen richtet er sich in den Steigbügeln auf um sich einen besseren Überblick zu beschaffen, dann reitet er – das Gesicht im Schatten eines breitkrempigen, federgeschmückten Hutes verborgen – zielsicher auf eines der beiden auslaufbereiten Schiffe, eine dickbauchige Kogge aus Vellhafen, zu und lässt sein Pferd über die Planken bis an Deck spazieren.
Bei so einem Verhalten kann es sich zweifellos nur um einen Equidor aus Westendars stolzem Adel handeln. Und keiner von den verarmten Schluckern, wie ein Blick auf die Kleidung und das edle Reittier zeigt.
An Deck spricht er mit dem Capitàn, der offensichtlich nicht erfreut über das Tier auf seinem Schiff ist, übergibt ihm einen versiegelten Umschlag und dazu ein paar Münzen für den Transport. Dann lässt er sein Pferd sich einmal um sich selbst drehen und reitet unbeeindruckt zurück in die Stadt.
Der Inhalt des Briefs lautet:
»Geliebte Schwester,
Ich habe deinen letzten Brief erhalten und mit Freude vernommen, dass du erneut Mutter wirst. Möge die gütige Rhea über dich und dein ungeborenes Kind wachen, euch vor jedem Leid beschützen und Lhaja euch von allen Krankheiten beschirmen.
Stell dir vor, ich werde bald zu euch kommen, dann kann ich endlich zum ersten Mal meinen Neffen sehen und auch meine Nichten wiedertreffen. Ist es wirklich schon 4 Jahre her? Deine Thereza müsste jetzt 7 sein, ob sie sich wohl noch an mich erinnert? Und Eloise lag damals noch in den Windeln!
Ich kann dir leider nicht sagen wann ich euch besuchen werde, ich werde nämlich nicht direkt zu euch reisen sondern nach San Aurecciani. Man hat mich dort zum persönlichen Adlatus des Botschafters von Westendar ernannt. Vater hat gesagt er ist stolz auf mich. Weißt du, wenn er das zum letzten Mal gesagt hat? Als ich 13 war und das erste Mal als Cachiete in der Arena stand. Ich hab damals gleich das Ohr des Stiers gewonnen und es war um mich geschehen. Seitdem hat mich die Corrida nicht mehr los gelassen, bis – nein, lassen wir die Geschichte ruhen.
Als Adlatus des Botschafters werde ich viel zu tun haben. Das ist eine große Ehre und eine große Verantwortung. Ich bin dann unter anderem für die gesamte Korrespondenz und die Termine des Botschafters zuständig und sozusagen sein Stellvertreter. Über den Botschafter selbst hört man hier in Santo Tiberio allerdings nicht viel Gutes. Ich kenne ihn nicht, es ist ein Conde aus dem Norden aus der Nähe von Quidon und ein Vertrauter von Fürst Raphael, dem Geier. Man sagt er ist öfter in den Hurenhäusern als in seinem Officium anzutreffen.
Ich wurde gewarnt, dass ein großer Teil der Arbeit an mir hängen bleiben wird. Mein Vorgänger soll sich deswegen erhängt haben. Andere meinen er hätte hohe Spielschulden gehabt...
Es freut mich zu hören, dass der Handel mit Evangelista so gut läuft. Alfonso meinte dein Mann hat sogar eine neue Karavelle in Auftrag gegeben.
Ich weiß nicht wie viel dir unsere Schwester Ramona letzte Woche geschrieben hat, ich fürchte sie war so aufgeregt wegen ihrer Verlobung, dass sie alles andere vergessen hat; Miguel wurde befördert, er ist jetzt Erster Offizier auf der „Caballo d’Espuma“, seine Frau ist darüber allerdings nicht sehr erfreut, sie sagt er solle lieber bei ihr und ihrem Kind bleiben. Und bei Francisca hat man wohl eine magische Begabung festgestellt, vielleicht ist sie deswegen so wie sie ist?
Ich werde schon nächste Woche aufbrechen und sobald ich nach meiner Ankunft in San Aurecciani Ordnung in die Angelegenheiten meines unglücklichen Vorgängers gebracht habe und ich dort eine Zeit lang frei bekomme, komme ich zu euch nach Cargnac.
Versprochen.
Oder du besuchst mich mit den Kindern in San Aurecciani.
Ich werde dir von S.A. aus wieder schreiben.
Bis hoffentlich bald,
Drigo«