Die ausgedehnten Maulbeerbaumplantagen der Seidenprovinz Horami-ken liegen schon einige Zeit hinter ihnen. Das Land ist nun offener geworden und immer häufiger kommen sie an kleinen Dörfern vorbei, umgeben von Feldern auf denen Reis und Gemüse angebaut und Vieh gehalten wird. Alles deutet darauf hin, dass in nicht allzu weiter Entfernung tausende hungriger Mäuler versorgt werden wollten.
Kurz nach Mittag erreichen sie dann an eine gut ausgebaute Strasse, auf die sie ihre Pferde lenken und nach Süden weiter reiten. Yoshimura greift in seine Satteltasche und fördert einen Holzstab zu Tage, der vielleicht einen halben Schritt lang und am oberen Ende und einer Stoffbahn umwickelt ist. Er wickelt die Stoffbahn ab und steckt das Ende des nun als Feldzeichen erkennbaren Wimpels über die Schulter in eine Halterung, die an seinem Yoroi für diesen Zweck angebracht war. Lustig flattert das Fähnchen nun hinter ihm im Wind und zeigt jedermann an Hand eines weissen Thunfisches auf blauem Grund, dass dieser Reiter aus Kydota kommt und zu den Samurai des Kô Shikashe Honshitokawa gehört.
Und dass es sich bei diesem Reiter nicht um einen Ronin handelt.
Di Vincenzo schmunzelt. Das Tragen einer Standarte war auch in seiner Heimat keine Seltenheit, doch benötigte man dazu eine freie Hand. Ein Fähnchen einfach auf dem Rücken zu befestigen, erscheint ihm keine schlechte Idee.
Im Gegenteil erweist es sich als förderlich. Nun, da ihnen immer häufiger Ochsenkarren und Gruppen von Bauern auf der Strasse begegnen, sorgt es dafür, dass man sie mit tiefen Verneigungen grüßt und der Weg für sie rasch frei gemacht wird. So kommen sie gut voran und bringen ein gutes Stück des Weges hinter sich. Langsam aber sicher macht sich die Sonne bereit, am Horizont verschwinden zu wollen, als Yoshimura das Schweigen bricht:
"Heute Nacht werden wir auf einem Futon schlafen und etwas anderes zu Essen bekommen, als Dörrfleisch und Reis." Di Vincenco wendet sich ihm zu. Die Züge zwischen dem Kinnbärtchen und dem Morion zeigen deutliches Wohlgefallen.
"Das wäre mir überaus willkommen, Yoshimura-San. Vorher noch ein Bad, und die Welt würde mich mit vielem wieder versöhnt haben." Der Inodaner lächelt:
"Hai, und ein Bad. Das wird sicher auch machbar sein. Wir kommen bald in ein Dorf, wo wir übernachten werden. Von da ist es nicht mehr weit und morgen gegen Mittag sind wir dann am Ziel.""Klingt sehr gut in meine Ohren", gesteht di Vincenzo und es scheint, dass auch die Pferde damit einverstanden sind. Zumindest macht es so den Anschein, traben sie doch nun auch ein wenig schneller.
Am frühen Abend zeigt sich, dass Yoshimura recht behalten sollte. Wie er es vorausgesagt hat, erreichen sie ein kleines Bauerndorf.
Zielstrebig reiten sie auf den kleinen Platz zu, der den Mittelpunkt des Dorfes bildet, verfolgt von einer Horde Kinder. Sie haben nur selten Gelegenheit, Besucher zu bestaunen und noch nie ist ein Gai-Jin dabei gewesen.
Der Hufschlag und das laute Gewirr der Kinder treibt auch die Erwachsenen aus ihren kleinen Häuschen, so dass sich im Nu eine Menschentraube im die Reiter gebildet hat, die nun auf ihren Pferden in mitten des Platzes thronen. Der Unterschied in der Höhe wird noch vergrössert, da die Menschen sich tief verneigen. Bis auf einige Frauen, die versuchen die Kinderbande in die Häuser zu scheuchen, was nur unvollkommen gelingt.
Zu groß ist deren Neugierde.
Schließlich erhebt sich ein alter Mann aus der Menge der Bauern und richtet das Wort an die Reisenden:
"Konnichi wa", begrüsste er die Besucher untertänig,
"tief geehrt duch Euren hohen Besuch, frage ich, wie wir zu Diensten sein können?""Chiwa", grüsst Yoshimura knapp zurück und hält sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf,
"Ich bin Samurai Yoshimura und mein Begleiter ist di-Vincenzo-San, Gesandter der Gai-Jin aus dem fernen Westen. Wir brauchen Quartier für die Nacht und wir wünschen zu Baden."Unter mehrfachen Verneigungen antwortet der alte Mann:
"Hai! Hai, natürlich." Dann richtet er sich wieder auf und gibt die nötigen Anweisungen an die Dorfbevölkerung, während Yoshimura und die Vincenzo aus den Sätteln steigen. Sogleich nimmt sich einer der älteren Bauernburschen ihrer Pferde an und führt sie weg. Der alte Mann dagegen kümmert sich um die Gäste und läd sie in sein Haus:
"Vergebt mir, wir sind nur einfache Bauern, aber wir werden tun, was wir können, um Euch zu Diensten zu sein."Die Menschentraube zersteut sich und man beginnt den notwendigen Verrichtungen nachzukommen, die der unerwartete Besuch nun mit sich bringt.
Derweil kümmert sich der Sohn des Dorfältesten bereits um das gewünschte Bad. Yoshimura ist Inodaner genug, um dem Gast aus der Fremde den Vortritt zu lassen, auch wenn ihm der Staub von der Reise unter der Kleidung schon reichlich scheuert. Die Seife war schon seit langem aufgebraucht gewesen.
So setzt er sich auf die Veranda des Hauses und nimmt den ausladenen, reich verzierten Helm ab, den er neben sich legt. Die neugierigen Kinder unterhält er mit grinsenden Grimassen, bis er plötzlich an sein Schwert greift und es rasselnd schüttelt. Sein lautes
"BUH!" lässt die Rasselbande in alle Richtungen auseinander stieben.
Lachend schlägt Yoshimura sich auf die Schenkel, dass die Oberschenkelschienen des Yoroi nur so krachen.
"Ha, ihr Bauernbengel. Angst vor einem einzelnen Samurai." Er verliert bald das Interesse an dem neckenden Spiel und schaut sich um. Ein junges Mädchen in einfacher Bauerntracht ist wohl angewiesen worden, sich um ihn zu kümmern. Jedenfalls steht sie diskret in seiner Nähe auf der Veranda an der Hauswand.
"Gibt's hier Sake", fragt er sie, was sie mit einem Nicken bejahte und sogleich im Haus verschwindet.
Wenig später kommt sie zurück und reicht Yoshimura ein Schälchen, in das sie aus einer langhalsigen Tonkaraffe eine farblose Flüssigkeit giesst. Yoshimura kippt das Schälchen in einem Zug hinunter und hält ihr die Schale wieder hin, worauf sie sie erneut füllt. Diesmal lässt sich der Samurai etwas mehr Zeit und trinkt bedächtiger.
"Wie ist dein Name", fragt er zwischen zwei kleinen Schlucken.
"Reika, edler Herr", stellt sie sich mit einer Verneigung vor.
"Reika also, hmm...", einen weiteren Schluck später heisst er sie, "dann sieh mal nach, wie lange der Gai-Jin noch im Bad braucht."
Wenige Schlucke später kommt Reika zurück, um zu berichten, dass der Gai-Jin bereits dabei wäre, sich anzukleiden. Wortlos stellt Yoshimura die Schale ab und erhebt sich. Dann schlüpft er aus den Schuhen und geht ins Haus hinein.
Nachdem die beiden Reisenden den Schmutz des langen Weges abgewaschen haben und die Kleidung zur Reinigung den Frauen anvertraut ist, finden sie sich im grossen Raum des Bauernhauses ein. Der allerdings leicht zu finden ist, denn bis auf den abgetrennte Baderaum und eine Kochgelegenheit, gibt es nur diesen einen Raum. So sitzen bald alle um eine niedrige, roh gehobelte Tafel und begutachten, was an Speisen angerichtet ist. Man hat sich redlich Mühe gegeben, doch ist schwer zu übersehen, dass die Bauern in diesem Landstrich keinen übermässigen Luxus besitzen. Trotzdem, alles wäre besser, als Dörrfleich und Reis. Tatsächlich nichts von dem.
Zwar durfte der Reis auch hier nicht fehlen, doch ist wohl eigens ein Huhn geschlachtet und in einer dunklen, würzigen Sosse mit Gemüse zubereitet worden. Ein bisschen Fisch hat sich auch finden lassen, doch war er zur Konservierung in Salz eingelegt worden, so dass er nur mit viel Reis genießbar wurde.
Ein Rettich wurde geschält und in hauchdünne Scheiben geschnitten. So findet sich das Mahl für die Gäste angerichtet und alles in allem erscheint es den Reisenden gar wie ein Festmahl.
Während die Stäbchen bald hier, bald da einen Bissen aus den Schalen fischen und mit Reis mischen, hält sich di Vincenzo an sein eigens mitgeführtes Besteck. Dieses seltsame Utensil wird von den Bauern neugierig bestaunt, doch mit der notwendigen höflichen Diskretion. Niemand wagt zu fragen oder gar zu lachen über das sonderbare Werkzeug. Doch erscheint es offensichtlich überaus unpraktisch, benötigt man doch beide Hände, um es zu führen. Wie viel pratischer erscheinen ihnen da ihre eigenen Stäbchen.
Da es sich nicht geziehmt, mit vollem Mund zu reden und die Münder alle gefüllt sind, verläuft die Mahlzeit schweigend. Die Entbehrung macht diese Tafel nicht nur für die Reisenden zu einem Festmahl. Auch für die Bauern selbst ist der Tisch so nur an Festtagen gedeckt.
Oder wenn sich wie heute hoher Besuch einfindet, den es zu bewirten gilt.
Als der Hunger gestillt und Sake eingeschenkt worden ist, gewinnt dann doch die Neugier die Oberhand.
Natürlich steht der Fremdländer im Mittelpunkt des Interesses und so muss er über das Land erzählen, aus dem er kommt. Sein Oda ist einfach und oft müssen Hände und Füsse als Dolmetscher dienen, was Mißverständisse nicht verhindern kann. Aber gerade diese Mißverständnisse führen zu allgemeiner Heiterkeit.
Auch die beiden Reisenden sind überaus froh wieder andere Gesellschaft zu haben, als Eulen und Stechmücken und so dauert der Abend länger an, als er eigentlich sollte. Schliesslich spricht Yoshimura ein Machtwort und hebt die Tafel auf. Ihren Auftrag durften sie auf keinen Fall vernachlässigen.
So liegen bald alle auf einfachen Reisstrohmatten an den Wänden entlang ausgestreckt und Schnarchen in verschiedenen Stimmlagen erfüllt den Raum. Lange würde es nicht anhalten, denn schon bald würde die Nacht enden. Die Reisenden würden wieder auf ihrem Weg voranschreiten und die Bauern ihr Tagewerk beginnen, um der Scholle, auf der sie lebten, ihren kargen Unterhalt abzuringen.
Am morgen sitzen die beiden Reiter wieder in den Sätteln, die Nasen nach Süden. Die Verabschiedung ist sehr freundlich, ist doch nichts zu Bruch gegangen und kein Dorfbewohner wurde verletzt, was manches Mal geschah, wenn sich Krieger bei den Bauern einquartierten.
Zu viel Sake, die Gewissheit der Unantastbarkeit durch die Bauern und das Gefühl, mehr wert zu sein, lassen die Krieger oft vergessen, dass es nicht zu letzt der Bauern Arbeit ist, die das ganze Reich am Leben hält.
Als sie das Dorf hinter sich lassen, geht Yoshimura ein Gedanke durch den Kopf.
"Wie gut, dass ich ein Schwert und einen Nachnamen trage. Und nicht dieses Bauernleben erdulden muss."