Nachdem auch der letzte Rest des dünnen Breis aus der Schüssel gekratzt wurde, stellt er diese wieder vor die Türe, nimmt abermals Platz, rückt seine Utensilien zurecht und setzt die Arbeit fort.
Irgendwann nachdem ein paar Schritt von hinter der Türe verhallt sind, zieht er eilig etwas Pergament zwischen den Stofflagen seines mitgenommenen Gehrocks heraus, entfaltet es und überfliegt die bisherigen Worte eilig:
Falls mein Tagebuch von meinen Freunden nicht gefunden wird, werde ich auf diesen Pergamenten die Umstände meiner Entführung niederschreiben, auf dass vielleicht etwas Licht auf die Geschehnisse fällt, auch wenn ich diese Qualen nicht durchstehen kann. Für den Fall meines Ablebens: Yancka, ich liebe dich. Pass auf dich und Rondrai auf.
Erster Tag
Ich weiß nicht genau, welcher Tag heute ist, noch wo ich mich befinde. Mein Schädel dröhnt, als hätte ein leibhaftiger Oger darauf eingeschlagen. Gestern, zumindest vermute ich das, bin ich vom Heimschank in Wangalen mit Renard zum Liciatempel aufgebrochen, um dort weiter an der Übersetzung für Rehto zu arbeiten. Unser Weg war gut gewählt und ehrlich gesagt glaubte ich auch nicht daran, dass mir jemand auflauern würde. Wie sehr ich mich irrte. Nun liege ich hier in einem spärlich beleuchteten Zimmer, der Feuchtigkeit nach zu urteilen vermutlich ein Keller. Meine Glieder schmerzen und niemand spricht zu mir, fordert etwas oder erklärt sich. Heute Mittag wurde mir eine Suppe, ohne Worte und ohne Einlage, serviert - auf meine Schreie und auf mein Zureden wird nicht reagiert. Was mögen ihre Motive sein?
Zweiter Tag
Noch immer keine Neuigkeiten, kein Wort, kein Funken Hoffnung. Ich kann nur raten, welche schmutzigen Motive meine Entführung veranlaßt haben. Dazu vermute ich, dass mir mein Schreibzeug nicht umsonst gelassen wurde.
Dritter Tag
Nach dem heutigen Tag, alles Andere als spannend, mache ich mir langsam mehr Sorgen. Etwas wollen sie bestimmt, genießen scheinbar meine Unwissenheit. Es sind mehrere Stimmen zu hören. Hallen, ohne wirklich nah an der Tür zu sein, entfernt durch einen Gang. Richtig mit mir reden mag jedoch niemand. Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, bald wird sicher Hilfe kommen. Allzuviele Stimmen , laut weckt mich immer dieselbe - interessant - gehören zumindest nicht zu diesen Geiselnehmern. Und doch kann ich damit noch nichts anfangen außer zu hoffen, Renard und die Anderen mögen mich bald finden und dabei auf wenig Widerstand stoßen.
Sechster Tag
Ein weiterer Tag in diesem trostlosen Keller. Die Nahrung, oder das wie so nennen, schmeckt grauenhaft. Als ich heute morgen aufwachte, drückte mein Kopf so ähnlich wie am ersten Tag, als ich hier erwachte. Dazu ein stechender Schmerz am Fuß: Sie haben mit den rechten kleinen Zeh entfernt, vermutlich als Druckmittel und Beweis, dass sie es ernst meinen. Ich konnte noch keinen Blick auf einen der Entführer werfen, lediglich die kleine Luke wird dreimal am Tag geöffnet und mir wird ein Teller zugeschoben. Alle Versuche, mit den Gestalten zu sprechen, zeigen sich erfolglos. Drohungen, Schmeicheleien, Kooperationsangebote - auf nichts reagieren sie.
Ich verstehe nicht, warum sie mir meine Tasche gelassen haben. Es könnte sein, dass sie meine Aufzeichnungen ebenfalls als Druckmittel nutzen wollen, daher sollte ich ihnen keine Hifle dabei sein. Ich bin sicher, Yancka und die Freunde - sehr wahrscheinlich sogar die Falken - sind bereits auf der Suche nach mir, auch wenn ich nicht weiß, wo sie mich hingeschafft haben.
Siebter Tag
Es ist grauenhaft! Scheinbar wurde mir ein Schlafmittel in mein Essen gegeben, so dass ich mich an keine Details der Reise erinnern kann. Nur davor: Eine wohlgekleidete Gestalt, überheblich grinsend, betrat den Kerker. Er erklärte, dass "er" nun angekommen sei und meine Notizen sicher hilfreich sein werden. Dann wurde mir alles abgenommen, inklusive meiner Kleidung. Lediglich etwas Unterwäsche und einen alten Gehrock gab man mir. Doch was ich dann zu Gesicht bekam, stellt alle meine bisherigen Erfahrungen in den Schatten: Eine junge Dame, splitternackt, trat mir gegenüber. Sie grinste mich an, als sei sie kein Mensch... ein Ding... irre, ohne Verstand... wahnsinnig. Dann began sie zu zittern, dunkelrot funkelten mich ihre ... seine... die Augen an. Wie Risse in ihrer Gestalt kam eine wulstige, dunkelrote Haut zum Vorschein, ehe sich die Züge wieder glätteten... und ich mir in die Augen schaute. Die Götter mögen mir beistehen, ein Gestaltenwandler. Manche Legende rankt sich um diese Wesen, doch tat ich die Erzählungen bisher als Märchen und Aberglauben ab, doch sie scheinen wahr. Dann kleidete das Ding sich an, blickte mir irre grinsend in die Augen und sprach: "Ich bin Lumin, Freund von Anyancka, Vater von Rondrai und habe mein Gedächtnis leider verloren. Bitte rettet mich." Daraufhin wedelte es mit meinem Tagebuch umher, steckte es in die Dokumententasche und legte sich auf die Pritsche. Der Plan der Entführer wurde mich schlagartig klar, bleich, wortlos und kraftlos sackte ich auf meine Knie, ehe ich schließlich das Bewusstsein verlor und in einem anderen Keller aufwachte. Hier sitze ich nun, eine Bank, ein Tisch, ein Griffel, Pergament... was geht hier vor?
Die karge Gestalt tunkt den Griffel in das Tintenfass, beginnt dann zittrig und schnell zu schreiben.