Ein Wiedersehen
Meliador sah und hörte nichts mehr, als er, durch Blutverlust und Schmerz ohnmächtig geworden, auf ein Maultier geschnallt und aus Wangalen getrieben wurde. Vielleicht war es den Salben des Medicus zu verdanken, den auf dem Richtplatz noch das Mitleid gepackt hatte, dass er seinen Verletzungen nicht erlag. Vielleicht hatte auch Krähenmann seine schützenden Fittiche ausgebreitet, weil ihn weder die hungrigen Wölfe des Orklands zerrissen, noch Goblins ihn erschlugen. Das Maultier trug ihn sicher bis zu einem kleinen Weiher bei Tamelsquell.
Bauern nahmen sich seiner an. Götterfürchtige, schweigsame Menschen mit kräftigen Händen und verschlossenen Gesichtern, die ihn notdürftig versorgten und ihn, sobald er wieder bei Kräften war, zum gehen aufforderten. Das ihm die Zunge fehlte, hatte ihm Fragen erspart.
Mit seinem Schicksal hadernd schleppte sich Meliador schließlich nach Eisentrutz, der Stadt in der er aufgewachsen war.
Es folgten mühsame, hungrige Tage des Bettelns. Er lernte seine Verrichtungen mit der linken Hand auszuführen, das fehlende Gliedmass zu Geld zu machen. Sogar ohne Zunge zu sprechen lernte er. Und eines schönen Tages, bei blauem Himmel und einer Flasche Bitterwein, fand er sogar wieder Gefallen an seinem Leben.
Als er gerade auf dem Marktplatz nach Käufern für einen Fellanorak suchte, traf er auf eine außergewöhnliche Frau...
Elodiron Marnion fährt nach genauer Betrachtung des Halbelfen wie vom Blitz getroffen zusammen, das Bild in ihrer Erinnerung ist so eindeutig wie die Person vor ihr, doch ist scheinbar viel passiert und so bekommt sie nur ein von Entsetzen und Mitleid geprägtes "DELINOR" hervor.
Meliador schluckt und sieht die Frau blinzelnd an. Irgendwoher scheint sie ihn zu kennen. Er ist sich nur nicht sicher, ob das gut oder schlecht für ihn ist...Sie lässt den Lederbeutel vor sich fallen und erhebt etwas zitternd die linke Hand in Richtung seines Gesichtes. In ihre Stimme mischt sich Trauer und unter der Kapuze ihrer roten Robe fällt eine einzelne Träne hervor. Sie lässt den Stab in ihrer Rechten los und macht einen Schritt auf Delinor zu, sie versucht vorsichtig sein Gesicht zu berühren. Der Stab der Frau scheint den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen und bleibt wie angewurzelt stehen. Meliador bekommt es mit der Angst und versucht sich zu erinnern. Sie hatte ihn Delinor genannt...dann mußte es schon lange her sein...mehr als 15 Jahre wohl, denn dann hatte er Eisentrutz verlassen. Er schiebt den Anorak wie einen Schutzwall zwischen sich und die seltsame Frau, hilflos stammelnd, doch sie berührt vorsichtig und gefühlvoll mit der linken Hand seine Wange und schlägt mit der rechten die Kapuze weit genug zurück, dass er ihr Gesicht sehen kann. Ihre Augen haben sich nun gänzlich mit Tränen gefüllt. wortlos steht sie da und blickt ihn an. Lange hat kein Weibsbild mehr um ihn geweint, denkt er nun und das das letzte eines schrecklichen Todes starb. Ein Kloss steigt ihm bei diesem Gedanken in den Hals. Irgendetwas lief hier nicht geheuer. Sanft streichelt ihm Elodiron mit dem Daumen der Linken über die Wange "Was haben sie dir nur angetan Delinor, was..." "Bitte verzeih mir. ich wollte da sein, doch als ich davon erfuhr und mich in ein Schiff nach Wangalen setzte, geriet es auf halber Strecke in Seenot und ich habe es nicht geschafft und dachte du wärst tot...", sagt sie traurig. Tränen kullern ihre Wangen hinunter und berühren auf dem Weg zum Kinn ihren Mundwinkel ehe sie schwer zu Boden fallen. Sie blickt ihm tief in die Augen und wartet.
Nun glaubt er sie zu erkennen, eine Jugendbekanntschaft. Fast vergessen. Wenn er doch nur auf ihren Namen käme. Da stammelt sie: "Delinor... ich bin es... Elodiron ". Elodiron. Eins der Mädchen aus besserem Hause, die zur Schule gingen, während er sich durch die Gassen stahl, wird ihm klar. Im Augenblick gibt es wohl keine Frau, die für ihn begehrenswerter sein könnte. Früher war sie wenig mehr als eine Fremde, er interessierte sich für andere Dinge. Und Liebe zählte bei ihm und seinen Vorbildern als weichliche Schwäche. Er ist nun froh, sie niemals bestohlen zu haben. Elodiron blickt an Meliador herab und ihr Blick bleibt an seinem rechten Handgelenk hängten. bei dem Anblick beginnt sie etwas zu zittern und erneut fliessen Tränen "es tut mir so leid, ich wollte dir helfen, doch ich kam zu spät... bitte verzeih mir"
Das unverdient erfahrene Mitleid und die Zärtlichkeit Elodirons machen ihn ganz weich, erinnern ihn an Alessia Cavolo, die Unglückliche. Beim Krähenmann, was für ein ungünstiger Augenblick für Sentimentalitäten! Beinahe fängt er an zu weinen. Er nickt und streichelt Elodirons Wange.
Die Götter hatten ihn scheinbar noch nicht völlig verlassen.
Wenig später geht er mit ihr vom Marktplatz.